Heute war am Internat ziemlich viel Trubel. Viele Schüler kamen nach den Ferien zurück und wohl auch einige neue an. Ich hatte mich bereits am frühen Morgen um Great Heart gekümmert. Es fiel mir inzwischen leichter, auch wenn ich immer noch etwas Bammel hatte, ihn von der Weide zu holen. Nun hatte ich mich für den Nachmittag auf ein Stück Wiese neben der Wallachkoppel zurückgezogen und las in einem der Pferdebücher, die ich mitgenommen hatte.

Nachdem mein Papa wieder gefahren war und der Termin mit dem Rektor vorbei war, musste ich erstmal alles sacken lassen. Es waren doch recht viele neue Eindrücke auf einmal und alles war so neu. Im Gemeinschaftsraum hatte ich mich noch mit ein paar neuen Klassenkameraden unterhalten, doch als die ihre Sachen auspacken wollten, war ich alleine. Auf Kofferauspacken hatte ich noch keine Lust, deshalb ging ich noch einaml nach draußen. Das Chaos hatte sich etwas gelegt, sodass ich unschlüssig umherstreifte. "Ich besuche einfach noch einmal Rocki", dachte ich mir schließlich und machte mich auf dem Weg zur Wallachkoppel, wo mein neues Pflegepferd stand. Dort angekommen, entdeckte ich allerdings auch noch ein anderes Mädchen, das etwas einsam wirkte. "Hallo, ich bin Michelle", stellte ich mich sogleich freundlich vor. Weil sie etwas las, fügte ich daraufhin hinzu: "Ich hoffe, ich störe dich nicht?"

Ich blickte von meinem Buch auf. Gerade dieser Wechsel vom Englisch lesen auf Französisch sprechen fiel mir oft etwas schwer. Unsicher blickte ich das Mädchen an. "Ich heiße Apple-May Melody Summer Winterbottom", stellte ich mich höflich vor. Ich verfluchte meinen Akzent. Dabei musterte ich Michelle weiterhin. Ob sie mich wegen meiner Mutter ansprach? Oder wegen meines Vaters?

Als sie sich vorstellte, kam sie mir sofort irgendwie bekannt vor. Den Namen hatte ich auf jeden Fall schon irgendwo gehört, so außergewöhnlich er klang. Er erinnerte mich an eine bekannte Sängerin oder Schauspielerin. Jedenfalls an irgendjemand Prominenten. Apple-May und so weiter sah aber irgendwie gar nicht berühmt aus, momentan wirkte sie eher verloren. "So nennt dich aber bestimmt keiner", antwortete ich, auf ihren Namen anspielend. "Meine Freunde sagen zum Beispiel meistens Mimi zu mir." Dann überlegte ich schon mal, ob ich sie darauf ansprechen sollte, dass mir der Name irgendwas sagte.

Ich blickte sie nun mit großen Augen an. Sollte ich sie fragen, ob sie sich setzen wollte? Nein. "Meine Eltern und Geschwister nennen mich so", sagte ich dann. Wie mich meine Freunde nannten? Hatte ich Freunde? Also blieb ich unverbindlich und meinte: "Manche Leute sagen Apple und Herr Meier nennt mich Apple-May"

"Dann nenne ich dich jetzt einfach auch Apple, wenn ich darf", schlug ich vor und hockte mich zu ihr ins Gras. Immerhin hatte sie nichts davon gesagt, dass sie allein sein wollte. "Ich bin übrigens neu hier und komme in die 9. Klasse. Du bist bestimmt schon in einer höheren, oder?" Ich wollte nicht länger auf ihren komischen Namen herumbohren, aber ihre Eltern mussten ja einen eigenartigen Geschmack haben. Promis waren vielleicht so, was mich wieder zu dem Gedanken führte, sie deshalb zu fragen.

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin auch in der 9.Klasse", setzte ich schüchtern dazu, "Ich bin nur etwas groß" Ich legte vorsichtig mein Lesezeichen ins Buch, dann klappte ich es zu. "Bist du heute angekommen?", fragte ich, wobei mir kam, dass die Frage eher dumm war. Beim Frühstück hatte ich sie schließlich noch nicht gesehen.

"Ich bin sicherlich auch nicht die Kleinste", erwiderte ich lächelnd. "Das ist als Mädchen manchmal ganz schön anstrengend, nicht wahr? Aber ja, ich bin erst heute angekommen, mein Papa hat mich aus Ajaccio gebracht. Bist du schon länger hier? Du scheinst dich ja schon etwas besser auszukennen."

Ihr Vater hatte sie hergebracht. Fast musste ich seufzen. "Ich bin am 27.7. angereist", gab cih bereitwillig Auskunft, zögerte dann aber kurz, "Aus London"

"Oh schon so früh?", erkundigte ich mich überrascht. "Was hast du dann die ganze Zeit hier gemacht? Ich meine, in den Ferien wird ja nicht viel los sein, oder? Obwohl, die Pferde bleiben immer da." Ich lachte herzlich. "Und du kommst aus London? Ist ja mega interessant. Bei deinem Akzent dachte ich schon, dass du nicht von hier bist, aber als gebürtige Engländerin sprichst du ausgezeichnet Französisch. Was treibt dich von einer Millionenstadt hierher in die Provinz?" Ich lachte erneut.

Die Fragen strömten etwas schnell auf mich ein. "Ich hatte schon Reitstunden und habe die Tage manchmal mit Jacqueline und Samuel verbracht. Sie gehen in die 11. Klasse. Meine Eltern wollten mir genug Zeit geben, mich einzugewöhnen.", begann ich, wobei mir die Lüge im letzten Satz immer leichter fiel. Mein Französisch fand ich selbst grauenhaft, aber sicherlich war das nur ein höfliches Kompliment. Dennoch wollte ich darauf eingehen. "Ich war im letzten Schuljahr auf einem Auslandsjahr in Albertville." Mit Grauen dachte ich daran zurück. "London ist okay. Sehr groß", meinte ich vorsichtig. Nun noch die letzte. Warum ich hier war? Weil ich möglichst weit weg musste. Ich wollte diese Frage übergehen: "Warum bist du hier?"

"Dann hast du hier also schon ein paar Leute kennen gelernt? Da hast du ja schon einen entscheidenden Vorteil. Und dein Pflegepferd und du versteht euch sicherlich auch schon ganz gut. Wen hast du abbekommen?", redete ich sogleich weiter. "Austauschjahr klingt cool, würde ich ja auch gerne mal machen. Nur auf dem Reitinternat bieten sie das wohl leider nicht an. Egal, wenn ich erst das Abi habe, kann ich noch immer etwas mit Ausland machen. Vielleicht gehe ich dann auch nach England oder nach Kanada." Ich machte eine Pause, als ich merkte, dass ich plapperte wie ein Wasserfall. "Aber zurück zu deiner Frage: Ich wohne ja nicht weit weg von hier und da ich nun mal gerne reite, finde ich so ein Reitinternat ziemlich passend für mich. Mein Vater hat sowieso kaum Zeit für mich, dann bin ich hier sicherlich besser aufgehoben. Aber nicht falsch verstehen, er liebt mich über alles, er hat eben nur einen anstrengenden Job. Schade it nur, dass ich meinen Bruder jetzt alleine gelassen habe, aber vielleicht kommt der ja nächstes Jahr auch nach. Er reitet jedenfalls genauso gerne wie ich. Hast du auch Geschwister?"

Nervös zupfte ich an meinem T-Shirt bei dem Wasserfall. Das Austauschjahr hatte mir nicht gerade gefallen, aber ich wollte es nicht erwähnen. "Ja ich habe zwei Geschwister", antwortete ich also, "Meine Schwester heißt Scarlett Rose Mercedes Luthien und mein Bruder Theodor-August Cornelius Archibald. Ich glaube, Scarlett-Rose hat Reitunterricht" Ich runzelte die Stirn. Vermutlich musste sie Reiten lernen. Wenn sie mal Schauspielerin werden wollte. Oder wenn Mum das von ihr wollte. So ganz sicher war ich nicht, denn ich hatte sie ja kaum gesehen, als ich in Albertville war.

"Deine Eltern scheinen ja eine Vorliebe für ausgefallene Namen zu haben", stellte ich fest. "Aber ich bin neugierig, welches Pferd hast du? Steht das auch hier bei den Wallachen? Meins steht hier, Sirocco. So ein schicker, brauner Wallach. Kennst ihn vielleicht ja schon." Ich drehte mich um zur Weide und hielt Ausschau nach ihm, doch ich konnte ihn auf den ersten Blick nicht entdecken. "Eigentlich bin ich hierher gekommen, um ihn noch einmal zu besuchen. Gute Entscheidung, denn so habe ich dich getroffen."

Das Mädchen redet sehr viel. "Nein ich kenne ihn nicht", gab ich ehrlich zu. "Ich muss mich um Great Heart kümmern", erzählte ich dann. Zufällig entdeckte ich ihn und deutete auf das große Pferd.

"Der sieht ja so aus, wie er heißt", stellte ich lächelnd fest, als ich das kräftige Pferd betrachtete. "Und ich dachte schon, Rocki wäre groß. Wir könnten mal zusammen ausreiten, wenn du Lust hast. Ich glaube, alleine darf man das nämlich gar nicht, oder?"

"Ausreiten?", fragte ich erstaunt. Bisher hatte Frau Chevalier das Pferd immer an die Leine, nein Longe genommen

Apple verstand das Wort anscheinend nicht. Verständlich, ich hätte auch solche Probleme in einem fremden Land. Deshalb versuchte ich zu umschreiben: "Ja, ausreiten. Wenn du mit dem Pferd draußen in der Natur reitest. Hier in der Nähe ist doch auch ein Strand, dort zu reiten wäre total genial." Versonnen sah ich Apple an.

"Ich darf noch nicht ohne Leine reiten.... Ich meinte Longe", erklärte ich

Oh, jetzt war ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. "Achso, das wusste ich nicht", sagte ich gedehnt. "Ich dachte, das alle hier schon länger reiten. Aber wie kommst du dann im Reitunterricht mit? Du kannst dann ja nicht in der Gruppe mitreiten?"

"Ich bekomme am Samstag Einzelstunden", meinte ich. "Reitest du denn schon lange?", fragte ich nach um von mir abzulenken

"Muss ja sehr anstrengend für dich sein. Wenn du mal Hilfe brauchst oder Fragen hast, kannst du gerne zu mir kommen", antwortete ich mitfühlend. "Ich reite schon ziemlich lange, immer in einem Stall bei uns in der Nähe. Ich wollte schon immer ein eigenes Pferd haben, jetzt habe ich ja wenigstens ein Pflegepferd. Hoffentlich klappt das gut mit Sirocco."

"Machst du noch etwas anderes als reiten?", fragte ich neugierig. Daraufhin wurde ich rot. Die meisten Leute hier waren sehr Pferdefixiert

Ich lachte. "Sicherlich", meinte ich. "Ich treffe mich total gerne mit Freunden und gehe ins Kino. Außerdem singe ich gerne. Ich war an meiner alten Schule in der Theater AG, da bekam ich dann meistens solche Rollen zugeteilt, die auch etwas zu singen hatten. Und was machst du so gerne in deiner Freizeit?"

"Lesen", antwortete ich. Ich blickte auf mein Buch, "Aber meistens auf Englisch. Und ich gehe viel Spazieren"