"Ein Pferd droht immer zuerst, bevor es dich angreift, also so unerwartet kommt das meistens nicht", antwortete ich. "Aber ganz ehrlich. Wenn du dich Pferden gegenüber vernünftig verhältst, werden sie dir auch nichts tun. Auf Dreamdancer erst recht nichts. So wie du redest, möchte man meinen, Pferde wären Monster. Aber sie sind eben auch nur Lebewesen und natürlich kann man sie nicht hundertprozentig einschätzen. Allerdings sind sie erst einmal Fluchttiere und würden zuerst versuchen, vor einer vermeintlichen Gefahr wegzukommen. Wie oft soll ich dir das eigentlich noch versichern? Hast du vor was Bestimmten Angst oder warum fragst du so ausführlich danach?" Nun wurde ich doch etwas genervt. Ich hasse es einfach, wenn sich Gespräche im Kreis drehen und Diskussionen zu nichts führen.

Ich zuckte zusammen. Ich habe es gewusst, ich würde wieder etwas Falsches sagen. "Also so mit Ohren anlegen und so?", fragte ich wieder etwas schüchtern.

"Hättest du mal im Unterricht besser aufgepasst", gab ich unwillig zurück, rang mir dann aber doch eine Antwort ab. "Zähne zeigen zum Beispiel oder einen Hinterhuf anheben. Erst wenn das alles nichts hilft, fängt ein Perd an sich zu verteidigen."

"Ich habe im Unterricht aufgepasst", verteidigte ich mich vorsichtig, "nur, wenn ich dann so einem Riesentier gegenüberstehe, bin ich mir dann doch unsicher."

"Was suchst du dann auf einem Reitinternat, wo es nur so vor Pferden wimmelt?", entfuhr es mir. Meine Zunge war mal wieder schneller als mein Gehirn, aber nun war es sowieso nicht mehr rückgängig zu machen.

Ich senkte meinen Kopf. Verzweifelt schluckte ich, da ich doch relativ nahe am Wasser gebaut war. Dass ein Gespräch so enden würde, hätte ich nie für möglich gehalten! Ich wollte mich doch nur informieren, wie man sich am besten vor den Pferden schützt. Ich kam mir vor wie bei Hänsel und Gretel, wo die Hexe erst auch lieb zu den Kindern ist und sie dann verspeisen will. Ob das hier auch so gut ausgehen würde wie das Märchen? Ich wagte mich nicht, eine Antwort auf Frau Chevaliers Frage zu geben. Die Wahrheit wollte ich sowieso nicht sagen und sobald nur ein Laut aus meinem Mund kommen würde, würde ich doch nur anfangen zu weinen. Wieder schluckte ich.

"Wohl nicht, weil du Pferde gern magst?", bemerkte ich mit einem fragenden Unterton. Ich hatte die Sache nun schon angefangen, also wollte ich sie auch zu Ende bringen.

"Doch, schon", entgegnete ich stotternd. Es stimmte ja auch. Irgendwie mochte ich die Pferde ganz gerne und mein Pflegepferd ist ja auch immer lieb zu mir.

"Und warum fürchtest du dich dann vor ihnen, wenn du schon von Beginn an gelernt hast, wie sie denken und handeln?", fragte ich verständnislos weiter.

"Sie sind so groß", versuchte ich mich verständlich zu machen. Allerdings bezweifelte ich, dass das diese Frau verstand. Noch immer wagte ich nicht, die Reitlehrerin anzusehen.

"So ein Quatsch. Aber erzähle mir mal lieber, warum du Pferde magst, aber du vor ihnen Angst hast. Das widerspricht sich doch", antwortete ich und schüttelte leicht den Kopf.

Frau Chevalier wirkte nun wieder freundlich. Vorsichtig sah ich sie an und meinte: "Ich weiß nicht. Ich finde sie so ganz nett, aber so groß und unberechenbar." Ich musste an das weiche Pferdefell denken, das ich so gerne streichelte und das so gegen Einsamkeit half. Das traute ich mich aber nicht zu sagen.

"Tja, da hilft es auch nicht, wenn du mich über die Gefahren ausfragst. Du lässt dich ja doch nicht überzeugen, dass Pferde komplett harmlos sind", entgegnete ich. "Allerdings müsste dich Julie schon längst davon überzeugt haben."

"Ich will mich nur schützen", meinte ich, "ich stelle mir so einen Biss oder Tritt schmerzhaft vor. Ist es sicher auch, oder?"

"Du schützt dich aber sicherlich nicht davor, indem du immer daran denkst, was alles passieren könnte. Natürlich sollte man die Gefahren kennen und wissen, was man dagegen tun kann. Allerdings gehst du ja auch nicht immer in dem Gedanken die Treppe runter, dass du plötzlich stolperst und dir dabei das Genick brichst", antwortete ich. "Pferde merken die Grundstimmung ihres Reiter sofort. Wenn du also ängstlich bist, sind sie das auch. Und um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, so ein Tritt kann ziemlich schmerzhaft sein und Bisse können richtig gefährlich werden. Aber nur zu deiner Information: Statistisch gesehen kommen tödliche Autounfälle häufiger vor als solche mit Pferden. Also solltest du vielleicht das nächste Mal mit Julie nach Porto reiten, anstatt den Bus zu nehmen. Die Chance, dass dir nichts passiert, ist größer." Das meiste meines Gesagten war von einem ironischen Unterton untermalt.

Diese Reiter immer mit ihren Autounfällen! Aber Frau Chevalier hatte in diesem Punkt wohl recht. Und dass mit der Stimmung habe ich auch schon mal gelesen. "Warum eigentlich reiten?", fuhr ich nun mit meinen Fragen fort, "Wäre es für das Pferd nicht angenehmer, wenn wir nicht reiten würden?"

Jacqueline wusste auf meine Ausführungen hin anscheinend nichts mehr zu sagen, denn sie lenkte komplett vom Thema ab. Und noch dazu mit einer sehr eigenartigen Frage. Nun gut, ich ging also darauf ein, wenn sie unbedingt darauf Lust hatte. "Was heißt angenehm", erwiderte ich. "Pferde wurden domestiziert, damit sie den Menschen nutzen können. So wurden sie auch zum Freizeitpartner des Menschen. Denkst du, dass es für Pferde in der freien Wildbahn angenehm war oder ist? Wo sie ständig nach Feinden Ausschau halten müssen und somit immer auf der Flucht sind. Bei Eiseskälte, Sturm und brütender Hitze. Wo sie im Winter oder anhaltender Dürre kaum ausreichend Futter für sich finden. Im Krankheitsfall qualvoll verenden. Hengste, die sich bis aufs Blut bekämpfen oder Fohlen, die von Raubtieren gerissen werden. Stellst du dir das unter einem schönen Leben vor?" Ich holte kurz Luft, wartete jedoch auf keine Antwort von Jacqueline, sondern sprach einfach weiter: "Was das Reiten betrifft: Es ist immer eine Frage, wie einfühlsam mit dem Partner Pferd umgegangen wird. Ein verantwortungsbewusster Reiter wird niemals dem Pferd im Maul herumreißen, es nicht schlagen, nicht überbeanspruchen. Unter einem solchen Reiter und bei guter Haltung haben viele Pferde Freude an der Arbeit und mit seiner Bezugsperson. Das siehst du doch auch an Pfeffer, der vermisst doch seine ehemalige Pflegerin auch sichtlich." Gespannt sah ich das Mädchen mir gegenüber an.

Ich schüttelte mich. Bei dem Thema im Maul herumreißen fühlte ich mich angesprochen. Nachdenklich sah ich meine Reitlehrerin an. Also Argumente hatte die, das musste man ihr lassen. Ob Pfeffer Jaline wirklich vermisst, darüber hatte ich mir eigentlich auch noch keine ernsthaften Gedanken gemacht. Ob das so war? "Aber dann haben es ja Schulpferde besonders schwer", meinte ich nun, "Die können sich doch nie richtig an jemanden gewöhnen. Gerade hier. Ist es da nicht so, dass sich Pferde an einen Reiter gewöhnen und gerade, wenn sie sich mal an jemanden gewöhnt haben, müssen sich diese Pferde wieder auf einen neuen Reiter einstellen? Also alle vier Jahre. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will nicht schlecht über die Schule reden, aber ich denke es mir nur."

Mein Vortrag hatte Jacqueline wohl ziemlich beeindruckt und sie hatte dem nichts mehr entgegenzusetzen. "Das Thema Schulpferd ist ein Kapitel für sich, da gehe ich jetzt lieber mal nicht näher drauf ein, das würde sicher zu weit führen", meinte ich. "Dreamdancer arbeitet dem ja entgegen, sodass jeder sein eigenes Pflegepferd bekommt. Leider können sich nicht alle ein Pferd leisten, sonst würden sicherlich viele ihren Liebling nach dem Abitur kaufen wollen. Du wirst aber übrigens auch mit deinen zweibeinigen Freundinnen nach dem Abitur weniger Kontakt haben oder sie ganz aus den Augen verlieren. Das ist doch immer so im Leben." Ich unterbrach mich kurz und musterte das Mädchen genau. Dann fuhr ich fort: "Und jetzt genug mit deinen Ablenkungsversuchen. Du hast mir noch immer nicht gesagt, warum du auf ein Reitinternat gekommen bist. Wenn du's mir nicht sagen willst, werde ich dich auch nicht dazu zwingen. Aber dann komme nicht mit irgendwelchen Ausflüchten und glaube, dass ich das nicht merke, dass dir das Thema unangenehm ist."

Ich wurde ein wenig rot. Ausflüchte waren es ja nicht direkt gewesen, also nicht wirklich. Ich wägte gedanklich ab. Was konnte mir passieren, wenn ich die volle Wahrheit sagte? Sie könnte es herum erzählen, fiel mir spontan ein. Ich musterte die Reitlehrerin gedankenvoll. So sah Wie eine Tratschtante sah sie eigentlich nicht aus. Eigentlich sah sie gerade generell nett aus, das konnte aber auch nur eine Täuschung sein. Nur ehrlich wirkte sie auch. Angestrengt dachte ich nach. Ich musste mich beeilen, schließlich wollte ich Frau Chevalier nicht ewig aufhalten. Nun denn, was hätte es für Vorteile, wenn ich es ihr sagen würde? Sie würde mich vielleicht besser verstehen. Nein, eher nicht, dafür war sie nicht der Typ, dass sie so etwas verstand. Allerdings würde sie mich höchstwahrscheinlich auch nicht für völlig gestört einstufen, so wie es Frau Ring immer macht. Die Reitlehrerin war sicher vertrauenerweckender als sie. Anderer Vorteil: Sie würde mich vielleicht besser unterstützen, viel Verantwortung zu übernehmen. Das klang überzeugend in meinem Kopf. Außerdem würde das meine Eltern auch freuen. Ich sah meine Reitlehrerin fest an. Auch, um nicht loszuheulen, wenn ich gleich sprechen würde. Ich atmete tief durch. Würde sie gleich wieder schreien?

"Also?", forderte ich das Mädchen auf.

Sie wirkte wirklich vertrauenserweckender, vor allem, da sie mich nicht bedrängte. Ich schluckte und meinte etwas ungeschickt stotternd: "Wegen der Verantwortung. Meine Eltern wollten, dass ich Verantwortung übernehme. Es lerne, Verantwortung zu übernehmen." Und nun? Würde Frau Chevalier losschimpfen?

"Was ist denn das für ein Quatsch", entfuhr es mir überrascht. "Natürlich lernt man im Umgang mit Pferden Verantwortung, aber das kann ja auch nicht erzwungen werden. So macht das doch weder dem Pferd noch dem Reiter Spaß. Aber dadurch erklärt sich ja einiges ... Gefällt es dir überhaupt hier? Und speise mich nicht wieder mit Halbwahrheiten oder Lügen ab, dann sag lieber gar nichts."

"Ein Quatsch?", hinterfragte ich, doch ich gab Frau Chevalier ehrlich Auskunft: "Klar gefällt es mir hier. Es ist für mich wie ein zuhause. Schon wegen Samuel. Er ist immer so nett zu mir." Frau Chevalier konnte Lügen wohl nicht leiden. Ich strahlte bei dem Gedanken an Sam.

"Ja, wie gesagt. Man kann doch niemanden zu seinem Glück zwingen, schon gar nicht, wenn andere Lebewesen mit im Spiel sind", sagte ich ernst. Zwischen den Zeilen hörte ich heraus, dass Jacqueline sich mit ihren Eltern wohl nicht ganz so gut verstand. Wenn sie schon das Reitinternat als ihr Zuhause bezeichnete. Doch das ging mich ja nichts an. "Ich wollte eigentlich wissen, ob du gerne reitest", stellte ich nun die entscheidende Frage.