"Ach, das meinten Sie", verstand ich nun. Ich folgte Frau Chevalier bis zu der Box, in der Julie stand. Sie schaute auch auf die Stallgasse raus. Vorsichtig streichelte ich über ihren Hals.

Ich guckte überall nach, ob alles in Ordnung war. Dabei kam mir ein in der Stallgasse vergessener Besen unter, den ich schnell noch ordentlich verräumte. Schließlich ging ich zum Ausgang und sah mich nach Jacqueline um. "Kommst du?", rief ich sie leise.

"Ja", gab ich als Antwort und folgte der Reitlehrerin. Heute erschien sie mir gar nicht so böse wie sonst. Ich sollte diesen Moment nutzen, um all meine Fragen zu stellen, auf die ich keine Antwort wusste.

(Tja, im Unterricht ist sie eben streng, aber böse eigentlich nie...)

Ich schaltete das Licht aus und verschloss das Stalltor gewissenhaft. Schnell gingen wir über den Innenhof, es war ziemlich kalt geworden. Im Eingangsbereich des Internatsgebäudes erkundigte ich mich bei Jacqueline: "Hast du noch etwas auf dem Herzen? Dann können wir uns gerne in den Aufenthaltsraum oder in die Bibliothek verziehen."

"Hätten Sie denn noch Zeit?", fragte ich schüchtern, aber gleichzeitig überrascht.

"Sonst hätte ich dich ja nicht gefragt", gab ich zurück. Auf eine Diskussion über Pferde hatte ich immer Lust und wenn sich Jacqueline schon mal dafür zu interessieren schien, dann wollte ich das gerne ausnutzen.

"Okay", nickte ich, "also Bibliothek?"

"Ja, dann mal los", meinte ich. Wir gingen also in die Bibliothek und setzten uns in ein gemütliches Eckchen. "Nun, was interessiert dich noch?", wollte ich schließlich von dem Mädchen wissen.

Mir machte die Freundlichkeit von Frau Chevalier schon fast Angst. Nicht, dass sie mich im nächsten Moment wieder anschreit oder auslacht oder was weiß ich. Aber gut, ich musste es riskieren. Also stellte ich die Frage, die mich eigentlich von Anfang an immer am brennendsten interessiert hatte: "Wann beißen Pferde eigentlich? Lässt sich das sagen?" Ich sah meine Reitlehrerin schüchtern an und rechnete mal wieder mit einer Explosion ihrerseits.

"Pferde sind Pflanzenfresser, die fressen eigentlich keine Menschen, falls du davor Angst hast", antwortete ich etwas ironisch. Ich merkte immer wieder, wie zurückhaltend Jacqueline im Umgang mit Pferden war. Deshalb dachte ich mir, dass vielleicht das der Grund ist. Deshalb fuhr ich nun ernsthafter fort: "Aber es gibt schon Pferde, die beißen. Dann haben sie aber sicherlich einen guten Grund dazu, einfach so macht das ein Pferd nicht. Pferde sind nicht von Natur aus aggressiv. Auslöser könnte nicht artgerechte Haltung sein, also kein Auslauf, kein Kontakt zu Artgenossen, nicht geeignetes Futter, usw. Ein anderer Grund wäre, wenn das Pferd Angst hat und keinen anderen Ausweg mehr sieht. Wenn es schlechte Erfahrungen gemacht hat und etwas Schlechtes erwartet, zum Beispiel dass es geschlagen wird. Vielleicht würde ein Pferd auch beißen, um anzuzeigen, dass es Beschwerden hat. Zahnschmerzen zum Beispiel. Du siehst also, es gibt viele Gründe dafür, aber im Normalfall wird ein Pferd nie zubeißen. Vor allem wenn es sich erschreckt oder sich fürchtet, rennt es lieber erstmal weg." Ich holte Luft, denn ich hatte so ziemlich ohne Punkt und Komma gesprochen. Bei Pferdethemen kann ich mich einfach immer schön in Fahrt reden, das ist wahrscheinlich auch aus meinem Theorieunterricht bekannt.

Ich war etwas erschrocken und verwirrt. "Also kann man es im Prinzip nie vorher wissen?", fragte ich dem Verständnis wegen.

"Wenn du ein Pferd nicht kennst, sollst du es ja deswegen auch nicht füttern oder es in der Box besuchen", erwiderte ich. "Aber wie gesagt, Pferde beißen normalerweise nicht. Unsere hier auf Dreamdancer erst recht nicht. Da müssten sie schon in einem Ausnahmezustand sein, also zum Beispiel sehr krank, wenn überhaupt. Hat dich denn schon mal ein Pferd gebissen?" Fragend sah ich das Mädchen an.

"Nein, aber mit dem Maul angestoßen", meinte ich vorsichtig. Ich wusste zwar von den Büchern, dass das nichts Böses bedeutet, aber ich habe dann trotzdem Angst. Das verschwieg ich mal lieber, auch, wenn Frau Chevalier gerade wirklich freundlich wirkte.

Ich lachte leise auf. "Das ist ja wohl alles andere als beißen", meinte ich. "Ich kenne ja die Situation, die du erlebt hast, nicht, aber wharscheinlich wollte das betreffende Perd nur auf sich aufmerksam machen." Mich wunderte es schon etwas, wie wenig Jacqueline eigentlich über das Pferdeverhalten wusste. Das wird doch alles in den Theoriestunden durchgenommen.

"Ich weiß nicht", meinte ich unsicher, "es könnte dem Pferd dann ja doch versehentlich passieren, dass es einen beißt, oder?"

"Quatsch", entgegnete ich energisch. "Wie soll denn das gehen? Und warum überhaupt?" Ich schüttelte den Kopf, hielt dann aber plötzlich inne. "Was dir natürlich bei verfressenen oder schlecht erzogenen Pferden passieren kann, ist", fuhr ich fort, "dass sie nach dir schnappen, um an Leckerlis zu kommen. Deswegen bin ich auch eine Futterlob-Gegnerin. Allerdings passiert dir das auch nur, wenn du nicht für klare Verhältnisse zwischen dir und dem Pferd sorgst. Also wenn das Pferd bettelt und dir die Leckerlis versucht zu klauen, sollte es schon mal auf gar keinen Fall eins bekommen."

"Achso", entgegnete ich verständnisvoll, "und bei Pfeffer? Kann das da passieren?"

"Wenn du es falsch machst, kann dir das bei jedem Pferd passieren", erwiderte ich. "Aber wenn er bis jetzt noch nicht aufdringlich geworden ist, scheint ja alles okay zu sein."

Oh, das hörte sich alles so schwierig an. "Ich bin nie zu ihm in die Box", gestand ich. Den Zwischenfall auf der Weide erzählte ich lieber nicht. Wer weiß, was Frau Chevalier dann sagen würde!

Ich nickte nur und sagte dann: "Nun ja, du würdest es wohl trotzdem merken, wenn Pfeffer aufdringlich werden würde."

"Und mit dem Ausschlagen, ist es da das Selbe wie mit dem Beißen?", erkundigte ich mich nun.

"Ja, Pferde schlagen aus, wenn sie in Panik geraten und nicht flüchten können", erklärte ich geduldig, obwohl ich mir dachte, dass das Mädchen bisher dem Anschein nach überhaupt nichts gelernt hat. "Deshalb soll man sich ja auch nicht von hinten einem Pferd nähern sowie genügend Abstand halten." Die ehemalige Reitlehrerin musste ja wirklich keinen anständigen Theorieunterricht gegeben haben oder Jacqueline hatt einfach nie aufgepasst. Solche grundsätzlichen Dinge lernt man in meinen Stunden von Anfang an.

"Ja, schon", nickte ich, "aber das kann auch unerwartet passieren, meinte ich, oder?"

"Deswegen gehst du ja auch nicht ans Pferd hinten ran", wiederholte ich. "Aber es gibt schon Anzeichen dafür, dass sich ein Pferd unwohl fühlt."

"Klar", ereiferte ich mich nun, "aber könnte es nicht trotzdem einem treffen? Zum Beispiel, wenn es nach vorne ausschlägt oder steigt."