Früher als gedacht kam ich im Reitinternat an. Ich wollte absolut nicht zu spät kommen, das durfte ich mir einfach nicht leisten. Mein Schulbesuch hier wird ja durch ein Stipendium finanziert, also musste ich mich dementsprechend bemühen. Hoffentlich finden die anderen Schüler das niemals raus, dachte ich bei mir. Das wäre voll peinlich.
Mit einem Rucksack, einem kleinen und einem großen Koffer bepackt, stand ich einigermaßen ziellos vor dem Haupthaus herum. Ich hatte noch eine gute halbe Stunde Zeit, bis ich den Termin beim Direktor hatte. Ich war auch schon zeimlich nervös und hatte ein bisschen Angst vor dem ersten Gespräch mit ihm. Ob ich schon mal das Direktionszimmer suchen gehen sollte?

Gerade dachte ich noch, dass hier alles ziemlich verweist aussah, da rempelte mich jemand an. "Aua!", rief ich mehr aus Überraschung aus. Mein kleiner Koffer fiel mir aus der Hand. Gut, dass er verschlossen war, denn da waren alle meine höchstpersönlichen Sachen drinnen. Die brauchten die anderen nicht unbedingt alle zu Gesicht bekommen. Ich griff nach dem Gepäckstück und sah mein Gegenüber nun genauer an. Es war ein Mädel in meinem Alter und sah selbst recht verdattert aus. Von meinem Schrecken erholt, hielt ich ihr zur Begrüßung meine Hand hin. "Hallo, ich bin Mandy und komme ab Montag in die 9. Klasse hier", stellte ich mich schließlich vor und brachte ein freundliches Lächeln zustande.

Ich hatte echt Glück. Gleich bei meiner Ankunft traf ich jemanden aus meiner Klasse. Jacquueline hieß sie also. Ob sie wohl nett war? So schnell knnte ich die Leute nun auch wieder nicht einschätzen. Aber ich beschloss, die ganze Situation als positiv zu betrachten. "Freut mich, gleich jemanden aus meiner Klasse kennen zu lernen", meinte ich erfreut. "So mitten im Schuljahr ist das sonst gar nicht so leicht." Ich überlegte und fuhr dann fort: "Schade, dass ich um fünf einen Termin beim Direktor habe, weil sonst hättest du mir schon mal alles zeigen können. Aber magst du mir vielleicht verraten, wo der Chef hier seinen Sitz hat?" Ich grinste leicht. Eigentlich war ich es von mir gar nicht gewöhnt, so offen und locker mit fremden Menschen umzugehen. Wahrscheinlich war ich einfach nur froh, nicht alleine hier rumirren zu müssen.

Jacqueline stimmte zu, sehr gesprächig schien sie allerdings nicht zu sein. Vielleicht war sie aber auch einfach nur schüchtern. Hoffentlich konnten wir uns trotzdem in naher Zukunft noch anfreunden. "Super, danke", antwortete ich und wir betraten das Haupthaus. Hier drinnen sah schon alles viel freundlicher aus. Draußen war es ja wegen der einbrechenden Dunkelheit recht düster gewesen, fast ein bisschen gespenstisch. Ich beschloss, Jacqueline über den Direktor auszuhorchen, damit ich mich ein bisschen auf ihn einstellen konnte. Deshalb fragte ich: "Wie ist denn dieser Herr Meier so? Worauf muss ich bei ihm aufpassen?" Immerhin befand ich mich in einer Art Probezeit, wo ich auf keinen Fall irgendwie negativ auffallen durfte.

Vor dem Direktorzimmer blieben wir kurz stehen. Irgendwie schien ich bei ihr einen wunden Punkt mit meiner Frage getroffen zu haben. Aber da ich sie nicht hier drauf ansprechen wollte und ich sowieso bald den Termin hatte, beließ ich es mit einem: "Hört sich schon mal nicht so schlimm an." Ich blickte auf meine Uhr, es war 16:55 Uhr. "Okay, dann werde ich mal. Bestimmt sehen wir uns später wieder mal. Vielleicht sind wir sogar im gleichen Zimmer?", verabschiedete ich mich von Jacqueline. Ich holte einmal tief Luft, um meine Nervosität in den Griff zu bekommen. Jetzt war ich bereit und klopfte an die Tür, neben der ein Schild "Direktion, Michael Meier" angebracht war.

Ich nickte Jacqueline noch kurz lächelnd zu, Reden konnten wir später immer noch. Vor allem, wenn wir im gleichen Zimmer waren. Hörte sich für mich zumindest so an, warum sonst sollte da noch ein Bett frei sein? Normalerweise kam man doch nicht mitten im Schuljahr an, bei mir ist's auch nur eine Ausnahme. Langsam drückte ich die Türklinke runter und trat ein. Kurz sah ich mich um. Es bot sich mir ein freundlich gestalteter Raum, der trotzdem ohne viel Schnickschnack eingerichtet war. Irgendwie gefiel es mir auf Anhieb gut. Der Direktor - wenn er es tatsächlich war - saß an seinem Schreibtisch und blickte mir etwas verwundert entgegen. So kam es mir jedenfalls vor. Ich atmete noch einmal tief durch, dann setzte ich zu einer netten Begrüßung an: "Guten Tag. Mein Name ist Mandy. Ich habe einen Termin. Sind Sie Herr Meier, der Direktor?"

Als er aufstand und mir die Hand entgegenstreckte, ergriff ich diese. Seine Miene war jetzt undurchdringlich und ich konnte ihn absolut nicht einschätzen. Wie immer beschloss ich, die Situation positiv hinzunehmen und den Direktor zuerst einmal kennenzulernen. Jetzt wusste ich allerdings nicht genau, was ich sagen oder tun sollte. In der kurzen Stille, die entstanden war, dachte ich unschlüssig nach. Nach einer minimalen Überlegungszeit sagte ich schließlich: "Eine Mitschülerin, Jacqueline heißt sie, hat mir freundlicherweise Ihren Raum gezeigt, deshalb habe ich den Weg leicht gefunden." Ich hoffte inständig, dass ich etwas einigermaßen Vernünftiges von mir gegeben hatte. Der erste Eindruck zählte nun mal am meisten, das war mir bekannt.

Gut, so schlecht war mein Kommentar gar nicht. Oder er ignorierte meine Dummheit einfach. Wer weiß. Als er mir einen Stuhl anbot, bedankte ich mich höflich. Ich stellte mein Gepäck beiseite und setzte mich aufrecht hin. Meine Jacke ließ ich vorerst an, so lange würde das Gespräch hoffentlich nicht dauern. Und ganz warm war es hier sowieso nicht. Geduldig wartete ich darauf, was jetzt kommen würde. Ich dachte kurz daran, wie mein Vorstellungsgespräch an meinem alten Gymnasium verlaufen war. Die Direktorin dort hat mich von Beginn an kritisch gemustert und mich über meine private Situation ausgefragt. Das lag wohl einerseits an meinem Kleiderstil, der nicht gerade der beste war. Aber was sollte man sich denn bitte Großartiges leisten können, wenn man zweitens in einer sogenannten "Problemfamilie" großgeworden ist? Hoffentlich verlief dieses Gespräch hier besser.

Als Herr Meier den benannten Folder mit einem Handgriff herauszog, dachte ich bei mir: "Wow, der hat hier alles komplett im Griff." Ich bin ja auch so eine Ordnungsfanatikerin, von wem ich das wohl habe? Von meinen Eltern bestimmt nicht. Ich nahm die dünne Mappe entgegen und bedankte mich erneut. Dann fügte ich hinzu: "Schön, dann hat man alles auf einem Blick und weiß gleich ganz gut Bescheid." Ich blätterte ein bisschen im Folder herum und blieb sofort an der Stelle mit der Auflistung der Pflegepferde hängen. Laut diesem Info-Material hieß mein Pflegepferd Wildrose. Mehr stand darüber allerdings nicht, jedenfalls fand ich es auf Anhieb nicht. Der Name des Pferdes kalng allerdings nach einer Stute und war ein bisschen hochgestochen, fand ich. Nach dieser Überlegung blickte ich Herrn Meier wieder direkt ins Gesicht. Was wohl jetzt kommen würde?

Heute schon zum dritten Male bedankte ich mich bei Herrn Meier. Hoffentlich kam das nicht irgendwie übertrieben oder gespielt rüber. Daraufhin fügte ich noch hinzu: "Gerne. Dann muss ich mich nicht extra überall durchfragen. Können Sie mir anschließend auch noch die Stallanlage zeigen?" Natürlich interessierte mich vor allem Wildrose, das band ich ihm aber nicht gleich auf die Nase. Käme sicher nicht sehr höflich rüber, wenn ich ihn gleich wegen meines Pflegepferdes ausfragen würde. Ich erhob mich, schulterte meinen Rucksack und griff nach meinem kleinen Koffer.

"Das ist mir bewusst", erwiderte ich schnell und fragte mich, was ich falsch gemacht hatte. In seinem letzten Satz hörte man nämlich deutlich eine gewisse Strenge heraus. Jacqueline hatte mich davor zum Glück gewarnt und ich war einigermaßen vorbereitet darauf. "Es wäre sehr nett, wenn Sie meinen großen Koffer tragen könnten", fügte ich hinzu. Dieser war sowieso nicht ganz leicht und es wurde mühsam, in auf die Dauer immer herumzuschleppen. Außerdem konnte ich sein nettes Angebot schlecht ablehen. Wer weiß, wie er dann wieder reagieren würde. Eines hatte ich in der kurzen Zeit hier schon gemerkt: Disziplin war äußerst wichtig und unumgänglich. Damit hatte ich soweit kein Problem, ich war es gewohnt zu gehorchen und ein "liebes, braves Mädchen" zu sein.

Er ließ mich voraus gehen? Ich wusste doch gar nicht wohin. Ich verließ also die Direktion und blieb draußen unschlüssig stehen. Jacqueline war verschwunden, jedenfalls konnte ich sie in der Pausenhalle nirgends ausmachen. Fragend sah ich Herrn Meier an.